Samstag, 28. April 2012

In Witten wird noch durchregiert


Bis tief in die Reihen der Verwaltung und der im Rat vertretenen Parteien herrscht offenbar Unverständnis über die kommunalen Gebietskörperschaften, die in der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung als "eine der wesentlichen Grundlagen jeder demokratischen Staatsform" bezeichnet werden. [2]
Welche Funktion haben die "demokratisch bestellten Entscheidungsorgane", welches Leitbild hat die Verwaltung in Witten, welche Rechte haben die Bürger außer dem Recht, alle paar Jahre zur Wahl zu gehen?

Diese Fragen sollten uns in Zukunft mehr beschäftigen, damit wir "das Recht der Bürger auf Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten" [2] nicht an kleine Lobbyistengruppen  verschenken, die über unsere Zukunft entscheiden.

Seit ca. 20 Jahren ist die Verwaltungsmodernisierung in Witten überfällig. "Während der Prozess der Verwaltungsmodernisierung in anderen Städten schon weit fortgeschritten ist (natürlich verbunden mit entsprechenden Kostenvorteilen), pflegte Witten den Stillstand", meint Ratsmitglied Klaus Riepe (Bürgerforum) - siehe Beitrag: "Nach uns die Sintflut - ein Beispiel aus 2006 dafür, wie die Wittener Stadtverwaltung tickt". Diese Situation hätte für uns und unsere Stadt verheerende Folgen, würde aber auch erklären, warum sich in Witten viele Bürger aus anfänglichem bürgerschaftlichen Engagement enttäuscht wieder zurück gezogen haben, weil ihr kritischer Sachverstand auf Ablehnung stieß.
Die kommunale Selbstverwaltung eröffnet allen Bürgern zahlreiche Möglichkeiten, einer Stadt zu helfen, die sich, wie Witten, in einer finanziellen Notlage befindet.

Kommunale Selbstverwaltung in der deutschen Kommunaltradition 


Verwaltung und Rat, die kommunale Selbstverwaltung, wie wir sie heute kennen, sind das Ergebnis der vor 200 Jahren im Rahmen der Stein-Hardenbergschen Reformen verkündeten Städteordnung. Sie entstand zu Beginn der Industrialisierung und Urbanisierung, nach der vernichtenden Niederlage Preußens gegen Napoleon. Die Zeit war reif für Reformen, die Preußen wieder erstarken lassen sollten. Die Einwohner der Städte wurden dazu motiviert, sich "für die gemeinnützigen Zwecke des Staates einzusetzen, sich mit diesem zu identifizieren und auch Opfer dafür zu erbringen. Die freie Gemeinde sollte den Bürger aktivieren, für die städtischen Belange auch die nötigen Finanzmittel selbst aufzubringen." [1] Im Gegenzug dafür wurde ihnen Selbstverwaltungskompetenz gewährt.

Heute sind die Gemeinden und Gemeindeverbände Träger der grundgesetzlich garantierten kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28, Ab. 2 GG) und damit Träger der gesamten örtlichen öffentlichen Verwaltung. Staatsrechtlich sind sie Teil der Länder und unterliegen damit deren Aufsichts- und Weisungsrecht, nur der Bund und die Länder verfügen über eine jeweils eigene staatliche Hoheitsmacht. Die kommunale Vertretungskörperschaft ist in der deutschen Kommunaltradition ein Verwaltungsorgan. Sie ist Teil der kommunalen Selbstverwaltung und der Exekutive zuzuordnen; sie ist kein Parlament im eigentlichen Sinne, denn dazu fehlt ihr die Gesetzgebungskompetenz.
In der kommunalen Praxis hat sich "zumindest in den großen Städten kommunale Selbstverwaltung zu einer modernen lokalen Demokratie entwickelt." [1]

Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung stärkt Bürgernähe


Die kommunale Selbstverwaltung wurde am 15. Oktober 1985 vom Europarat durch die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung bestätigt und gestärkt. [2]
Nach Artikel 3 der Charta bedeutet kommunale Selbstverwaltung "das Recht und die tatsächliche Fähigkeit der kommunalen Gebietskörperschaften, im Rahmen der Gesetze einen wesentlichen Teil der öffentlichen Angelegenheiten in eigener Verantwortung zum Wohl ihrer Einwohner zu regeln und zu gestalten." (Art. 3.1)
Die kommunalen Gebietskörperschaften gelten als "eine der wesentlichen Grundlagen jeder demokratischen Staatsform". Das "Recht der Bürger auf Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten" ist "einer der demokratischen Grundsätze". Dieses Recht könne auf kommunaler Ebene am unmittelbarsten ausgeübt werden, heißt es in der Präambel der Charta. Der "Schutz und die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung" stelle in den verschiedenen europäischen Staaten einen wichtigen Beitrag zum Aufbau eines Europa dar, "das sich auf die Grundsätze der Demokratie und der Dezentralisierung der Macht gründet".

Artikel 4 hebt die besondere Bedeutung der Bürgernähe für die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben hervor: "Die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben obliegt im allgemeinen vorzugsweise den Behörden, die den Bürgern am nächsten sind". [2]  Entscheidung, Durchführung und Kontrolle sollen "möglichst dort erfolgen, wo es für die Bürgerinnen und Bürger am effektivsten, nachvollziehbar und transparent ist, und das ist in hohem Maße die kommunale Ebene.

Die kommunalen Selbstverwaltungsorgane entscheiden in Anbetracht der jeweiligen kommunalen Problemlagen weitestgehend selbst, welche Aufgaben – zusätzlich zu den zentral vorgeschriebenen Pflichtaufgaben - sie erbringen und welche Prioritäten sie setzen. Die konkrete Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung geschieht nicht reibungsfrei, sie beinhaltet dauerhaft ein Konfliktpotenzial mit der übergeordneten Ebenen und den Ansprüchen einer zentralen Steuerung. Die entscheidende Frage ist, ob die Verwaltung diese Ansprüche gegenüber den Bürgern durchsetzen und eine "Verwaltungshoheit" verkörpern will oder ob sie demokratische Verfahrensweisen wählt und die Bürger in Entscheidungsprozesse, von der Zielsetzung bis zur Realisierung von Projekten einbezieht.  

In Witten wird noch durchregiert


Die Städteordnung schuf vor gut 200 Jahren mit der kommunalen Selbstverwaltung die Grundlagen zur Entstehung und Binnendifferenzierung deutscher Bürgerlichkeit, wodurch die kommunale Selbstverwaltung von Anfang an Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um politische Macht war. Heute kommt hinzu, dass der finanzielle Druck auf die Kommunen einerseits und kritischer gewordene Bürger andererseits neue Differenzierungen schaffen, die einen neuen Umgang mit den Bürgern auf kommunaler Ebene erfordern.
Eine neue Art der Kommunikation zwischen Verwaltung und Bürgern schien in Herbede 2005 möglich zu sein. Vieles deutete darauf hin, dass die Verwaltung seit 2003/2004 aus dem Widerstand der Bürger und dem Bürgerbegehren gegen die Ansiedlung Lidls im Gerberviertel gelernt hatte. Im Protokoll des Workshops, Januar 2005, heißt es:
"Resumee:
Nach vormaligen Auseinandersetzungen ist ein Klima des Vertrauens wieder hergestellt. Die Zusammenarbeit im Workshop war kooperativ, konstruktiv und die Ergebnisse übertrafen die Erwartungen aller Beteiligten." (siehe: Arbeitsgruppe zum Ortskern: Bürgerbeteiligung für den Papierkorb!)
Aber dann kam alles anders. Die Wittener SPD, CDU und Grüne haben nicht nur dieses Protokoll, sondern in der Folgezeit auch alle anderen Beschlüsse von Bürgerversammlungen, selbst Gutachterergebnisse, die die in diesem Protokoll erarbeitete gemeinsame Position stärkten,  komplett ignoriert. Heute und im Nachhinein wissen wir, warum engagierte Bürger und jedes sachliche Argument an der Verwaltung scheitern mussten: Sie war und ist zutiefst reformunwillig und reformunfähig. 

Etwa zeitgleich zum ersten Bürgerbegehren arbeitete eine von der Verwaltung eingesetzte Kommission an einem Leitbild. Statt Ziele und Schwerpunkte der Organisationsentwicklung der Stadtverwaltung zu präzisieren, um die Steuerung des Entwicklungsprozesses und eine geordnete Personalentwicklung zu ermöglichen, habe die Verwaltung selbst politische Positionen vertreten, sie habe tatsächlich zur Abwehr von Steuerung und Transparenz gedient, kritisiert Klaus Riepe. [3] Der Abschlussbericht der Kommission wurde nicht öffentlich gemacht. Auf interne Kritik reagierte die Kommission offenbar beleidigt, denn sie stellte 2006 kurzerhand ihre Arbeit ein!

Für Herbede lässt sich der Verzicht auf eine Verwaltungsmodernisierung klar erkennen: Die Verwaltung hat sich, unterstützt von der SPD, CDU, den Grünen und der WBG, in Bezug auf die Ansiedlung eines Lebensmittelsupermarktes im Gerberviertel für das Durchregieren entschieden, mit allen negativen Konsequenzen für Witten und seinen Stadtteil Herbede.

Die Leidtragenden in Witten sind die Bürgerinnen und Bürger


Der Verzicht auf eine Modernisierung der Verwaltungsstruktur bei gleichzeitig wachsenden Ansprüchen der Bürger auf Beteiligung am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess führte in der Vergangenheit dazu, dass sich die Parteien offenbar immer enger umeinander scharten und eine Wagenburgmentalität herausbildeten. SPD, Bündnis90/Die Grünen und WBG schlossen 2010 eine „Kooperation der Vernunft“. Das Bündnis "will die Weichen jetzt stellen, damit Witten Zukunft hat!" (SPD Witten). Die CDU hat sich nahtlos in dieses Bündnis eingefügt, als sie dem Beschlussvorschlag der SPD zur Ansiedlung eines großflächigen Lebensmitteleinzelhandelsbetriebes im Gerberviertel zustimmte. (Zweifel bei der CDU an der anstehenden Gerberviertel- Entscheidung oder der Versuch einer Klientel- Politik?)
Die "Kooperation der Vernunft" und die Verbündung zur übergroßen Koalition ist in Bezug auf Herbede nichts anderes als ein Verteidigungsbündnis der Verwaltung und der großen, etablierten Parteien gegen den Bürgerwillen und gegen die Forderung nach Transparenz.

Politische Weitsicht kann man von SPD, CDU und Grünen in Witten nicht erwarten. Deshalb müssen die Bürger in einem Bürgerbegehren selbst entscheiden, ob sie der Urteilskraft dieses Rates in Bezug auf die zukünftige Entwicklung des Stadtteils Herbede noch vertrauen.

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[1] Jörg Bogumil, Kommune/Kommunale Selbstverwaltung, Beitrag für das Handwörterbuch der Raumordnung (hrsg. von der Akademie für Raumforschung und Landesplanung), Hannover, 2005: S. 515-521
[2] Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 15.X.1985, Deutscher Städte- und Gemeindebund, Amtliche Übersetzung Deutschlands
[3] Klaus Riepe, Nach uns die Sintflut - ein Beispiel aus 2006 dafür, wie die Wittener Stadtverwaltung tickt, 19.04.2012

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